Gedanken

Nazareth ist überall

bruder_karl_01Der Gottsucher, Beter und Mystiker Charles de Foucauld starb vor hundert Jahren. Er ist wie ein Leuchtturm, der Christen gerade heute Orientierung geben kann.

Im Winter 1916 war der Erste Weltkrieg am Hauptkriegsschauplatz in Frankreich längst zum Stellungskrieg geworden. In den berüchtigten Materialschlachten verbluteten Hunderttausende auf beiden Seiten der Front. Ständig war man hüben und drüben dem Geschosshagel der anderen Seite ausgesetzt, ein sinnloses Sterben. In der Sahara durchstreiften währenddessen einige Tuareg-Stämme das Land. Sie plünderten, vertrieben Fremde. Ähnlich wie die Kurden sind auch die Tuareg ein unruhiges Volk ohne eigenen Staat. So kam es, dass am 1. Dezember 1916 mitten in der Sahara ein 58-jähriger Franzosen namens Charles de Foucauld überfallen und erschossen wurde. Eine Gewehrkugel traf ihn hinter dem rechten Ohr und durchschlug seinen Kopf bis zum linken Auge. Bruder Karl – wie er im deutschsprachigen Raum gern genannt wird – war sofort tot. Die Haltung, in der er den Tod fand, war ihm vertraut: Man hatte seine Hände an die Fußknöchel gebunden. Unzählige Stunden hatte der Gottsucher in vergleichbarer Haltung – anbetend – vor dem Tabernakel mit dem eucharistischen Brot darin verbracht. Diese letzte kniende Anbetung im Sterben brachte Bruder Karl auf plötzliche und unvorhergesehene Weise dem nahe, für den er „ganz da sein wollte“: Jesus von Nazaret.

Entschlüsse aus der Stille

Als Charles de Foucauld starb, war die unlängst heiliggesprochene Mutter Teresa ein Mädchen von gerade einmal sechs Jahren. Drei Jahrzehnte später, im September 1946, erfuhr sie während einer Zugfahrt von Kalkutta nach Darjeeling das, was sie ihre zweite Berufung nannte: den Ruf, zu den Ärmsten zu gehen. Während dieser Bahnfahrt las sie in einem der ersten englischsprachigen Bücher von Charles de Foucauld. Später bezeichnete sie das Buch „Entschlüsse aus der Stille“ als eines ihrer Lieblingsbücher. Beide, die Mutter der Armen und der „Bruder aller“ (frère universel, wie er sich später einmal nannte), verbindet ein Jesuswort: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Mutter Teresa ist vielleicht die Namhafteste, aber bei weitem nicht die Einzige, die entscheidende Anregungen von Charles de Foucauld bezog. Seit den dreißiger Jahren sprachen sich sein Name und seine Geschichte zunächst in Frankreich, nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch in Deutschland und vielen anderen Ländern herum. Aus dem Weizenkorn, das 1916 im algerischen Tamanrasset in den Sand der Sahara fiel, wuchs eine Ähre mit vielen Körnern. Sie hat die Gestalt einer weltweiten geistlichen Familie mit unterschiedlichen Ausprägungen.

Anlässlich des hundertsten Todestags ist Gelegenheit, die Geschichte seines Lebens aus dem Nebel des Vergessens wieder ins Licht der Erinnerung zu heben. Es war ein Leben voller Extreme. Charles, der 1858 in Straßburg geboren wurde, hatte keine schöne Kindheit. Im sechsten Lebensjahr starben innerhalb von fünf Monaten Mutter und Vater. Als Vollwaise wuchs er zusammen mit seiner jüngeren Schwester bei den Großeltern mütterlicherseits auf. Als Frankreich 1870 das Elsass an Deutschland abtreten musste, übersiedelten die Großeltern mit den Kindern nach Nancy. Den Tag seiner Erstkommunion und Firmung 1872 behielt er in guter Erinnerung. Danach aber begann eine schleichende wie anhaltende Distanzierung von Glaube und kirchlichem Leben.

Der Soldat der Leere

Ein weiterer harter Einschnitt war 1874 die Hochzeit seiner neun Jahre älteren Cousine Marie, die für ihn eine Art Mutterersatz darstellte und die er durch ihre Heirat verloren glaubte.

Während seiner Zeit an der Militärakademie von Saint-Cyr starb auch noch seine letzte familiäre Vertrauensperson, der Großvater. Ein enormes finanzielles Erbe, das ihm zufiel, verführte ihn von da ab, sich während der Zeit der Offiziersausbildung das „Leben zu kaufen“. Später wird er über diese Jahre sagen, es sei eine „schmerzliche Leere voller Traurigkeit“ und Langeweile gewesen. Sein Dasein bestand aus Gänseleberpastete und Rotwein, weswegen für ihn aufgrund seiner Fettleibigkeit eine eigene Uniform geschneidert werden musste.

Unter den Frauen, die er zu seinen Festen einlud, war auch Mimi. Über einige Monate hinweg ging der damals 22-Jährige mit ihr ein etwas „dauerhafteres“ Verhältnis ein. Sie muss ihm wohl nicht ganz gleichgültig gewesen sein, denn er nahm Mimi unter dem falschen Titel einer Vicomtesse de Foucauld nach Algerien mit, wohin 1880 seine Einheit verlegt worden war. Vor die Alternative gestellt – Offizier sein oder mit Mimi leben -, entschied er sich für die Frau. Wegen „mangelnder Disziplin, verschärft durch notorisch schlechtes Benehmen“, wurde er aus dem Dienst entlassen.

Für einige Wochen lebte Charles de Foucauld mit Mimi in Evian, einem damals mondänen Kur- und Badeort am Genfer See. Er konnte sich ein wenig beruhigen, las Bücher über Nordafrika und machte erste Versuche, die arabische Sprache zu lernen. Als er einer Zeitung die Nachricht entnahm, seine ehemalige Einheit sei in Algerien in Kampfhandlungen verwickelt, packte ihn die Ehre, und er beschloss, dorthin zu gehen. Charles fuhr mit Mimi nach Paris, begab sich ins Kriegsministerium und bat um Wiederaufnahme, die ihm auch gewährt wurde. Von Mimi verliert sich von da an jede Spur.

Charles bewährte sich wider Erwarten im Kampfeinsatz als selbstloser, strapazierfähiger und einsatzfreudiger Soldat. Dennoch quittierte er nach einigen Monaten seinen Dienst – um sich auf ein weit größeres Abenteuer vorzubereiten: Er beabsichtigte, das für Europäer und Christen verschlossene Marokko zu erforschen.

Gekleidet wie ein Jude, schloss er sich einem Juden an, um durch das verbotene Land zu reisen. Fast ein ganzes Jahr war er unterwegs, geriet in unterschiedliche Nöte und Gefahren. Für seine Aufzeichnungen erhielt er später die Goldmedaille der Geografischen Gesellschaft. Dass Foucauld genauestens und solide wissenschaftlich arbeiten konnte, stellte er auch in den letzten Jahren seines Lebens unter Beweis, als er die bis heute grundlegenden Arbeiten zur Erforschung der Tuareg-Sprache zu Papier brachte. Diese wissenschaftlich-rationale Anlage in seiner Persönlichkeit verhinderte es, ihn allzu leicht in die Ecke eines träumerischen Fantasten zu stellen, der letztlich doch nicht weiß, was er tut.

Diese Zeit in Nordafrika rehabilitierte nicht nur Foucaulds soldatische Ehre und erwarb ihm wissenschaftliches Ansehen. Das Beobachten der selbstverständlichen religiösen Praxis der Muslime stimmte ihn nachdenklich und rief in ihm selbst die Frage nach dem Glauben wach.

Gleichzeitig kam er wieder öfter mit seiner geliebten Cousine Marie de Bondy in Kontakt, deren tiefen und beglückenden Glauben er bemerkte. Er sah, Marie ist intelligent und führt ein überzeugendes, gutes Leben – und sie glaubt! „Gleichzeitig fühlte ich mich durch eine innere Erfahrung äußerst stark angetrieben; ich fing an, in die Kirche zu gehen, ohne zu glauben, fühlte mich nur dort wohl und verbrachte dort lange Stunden, indem ich dieses seltsame Gebet wiederholte: Mein Gott, wenn es dich gibt, lass mich dich erkennen.“ Man kann sich fragen, ob es ein wahrhaftigeres Gebet gibt.

„Beichten Sie!“

Marie de Bondy hatte Ausstrahlung „durch ihr Schweigen, ihre Sanftheit, ihre Güte, ihre Vollkommenheit“. Sie legte keinen vorlauten Bekehrungseifer an den Tag. „Sie griff nicht ein.“ Aber sie machte ihren Cousin auf Abbé Huvelin aufmerksam, den Pfarrer von Saint Augustin in Paris. Ende Oktober 1886 suchte Charles de Foucauld den Geistlichen im Beichtstuhl auf mit dem Hinweis, er wolle keinesfalls beichten. Stattdessen suche er nach Informationen über Gott und Religion. „Knien Sie nieder, und beichten Sie!“, sagte Huvelin. Danach kommunizierte Charles de Foucauld.

Es lässt sich nicht mehr feststellen, wie gut Huvelin Charles vorher schon kannte oder was er durch Marie de Bondy über ihn wusste. Die Begegnung traf den jungen Mann mitten ins Herz. „Sobald ich glaubte, dass es einen Gott gibt, war mir auch klar, dass ich nur noch für ihn leben konnte.“

Die dreißig Jahre von Charles’ Wiederentdeckung des Glaubens bis zum Tod lassen sich grob in zwei Abschnitte einteilen. Den Wendepunkt markiert in etwa die Priesterweihe 1901. Zunächst drehte sich für Charles alles darum, „nur noch für Gott zu leben“. Er wollte sich radikal von der Welt und den Menschen trennen. 1888 reiste er dazu als Pilger ins Heilige Land, um den historischen und geistlichen Spuren Jesu ganz nahe zu sein. Dabei ging ihm auf, dass Jesus „zehn Elftel“ seines Lebens verborgen und unerkannt in Nazaret gelebt hatte. Das war ein Schlüssel­erlebnis. In einer Zeit, in der so viele Franzosen hoch hinaus wollten – 1889 wurde der Eiffelturm in Paris gebaut, lange Zeit das höchste Gebäude der Welt -, staunte Charles darüber, dass Gott so lange klein und verborgen blieb, als er in Jesus in die Welt kam. Wie aber lässt sich dieses verborgene Leben nachahmen?

1890 trat er zunächst in eine französische Trappistenabtei ein. Später wurde er in ein syrisches Tochterkloster geschickt, wo er bis 1897 blieb. 1897 verließ er im guten Einvernehmen mit den Trappisten wieder den Orden, um buchstäblich ein Leben in Nazaret zu führen. Er hauste vier Jahre lang in einem Bretterverschlag neben einem Klarissen-Kloster in Nazaret und verdingte sich als eine Art Hausbursche. Diese Jahre gehörten ganz Jesus: „Jesus genügt: Wo Er ist, fehlt nichts. Wie teuer uns auch jene sind, in denen ein Strahl von seinem Glanz aufleuchtet, Er bleibt das Ganze; Er ist das Ganze in der Zeit und der Ewigkeit.“

Charles verweilte stundenlang zu jeder Tages- und Nachtzeit vor dem Tabernakel. „Mein Gott, ich bitte dich um die große Gnade, mir das dauernde Gefühl deiner Gegenwart zu verleihen, deiner Gegenwart in mir und in meiner Umgebung.“ Er las und betrachtete die Evangelien, schrieb tausende Seiten voll mit seinen Gedanken, vor allem für sich selbst, aus Gründen der Selbstdisziplin und um sein inneres Leben zu ordnen.

Nach seiner Priesterweihe kehrte Charles de Foucauld nach Algerien zurück, in das Land, dem er den ersten Anstoß zur Suche nach Gott verdankte. Er erkannte für sich immer klarer, dass Nazaret überall dort ist, wo Menschen ganz am Rande leben, von allen vergessen und übersehen, Menschen an der Peripherie, wie Papst Franziskus sagen würde. Zu diesen Menschen wollte Charles das Evangelium und den Tabernakel und sich selbst bringen. Er wollte das Evangelium ohne Worte verkünden, als reines Apostolat der Güte. In seinen nun spärlicher werdenden Notizen erzählte er, dass die Tuareg-Nomaden in ihm einen guten Menschen erleben sollten. Sie sollten sich fragen: „Wenn dieser Mensch so gut ist, wie gut muss dann seine Religion sein?“

Erforscher der Tuareg-Sprache

War die Existenz des Charles de Foucould zunächst als einsames Leben auf Gott in Jesus hin ausgerichtet, begann er nun, sich um andere zu kümmern. Kaum noch notierte er Gedanken für sich, sondern schrieb eine Fülle an Briefen. Die Kommunion mit Jesus drängte ihn zur Kommunikation mit den Nächsten. Die Nächsten des „Kleinen Bruders Karl von Jesus“, wie er sich jetzt nannte, waren ab 1905 die Tuareg-Nomaden in der Region des Hoggar. Charles vertiefte sich in deren Sprache, erstellte ein Wörterbuch Französisch-Tamascheq und umgekehrt, eine Grammatik und eine Sammlung von Liedern, Gedichten und Geschichten dieses Volkes. All diese Arbeiten, die er als vorbereitende Hilfe für die Missionare, die nach ihm kommen würden, verstand, brachte er vor dem 1. Dezember 1916 zu Ende.

In unseren Tagen kommen Hunderttausende Menschen aus dem Orient und aus Nordafrika nach Europa. Sie nehmen den umgekehrten Weg von Bruder Karl. Seine Erfahrungen könnten hilfreich sein, wie wir diesen Menschen gut begegnen können, besonders wie Christen Muslimen gut begegnen. Darüber hinaus ist deutlich, dass die kirchlich geprägte Gläubigkeit abnimmt. Auch dabei kann Charles de Foucauld Hinweise geben, wie eine kleine religiöse Minderheit in einer Umgebung lebt, die Christus nicht (mehr) kennt.

Wie sollen sich Christen gegenüber Menschen aus anderen Kulturen, anderen Religionen – besonders aus dem Islam – verhalten? Möglicherweise würde Charles de Foucauld mit Worten antworten, die er in allgemeinerem Zusammenhang einem Bekannten in Lyon schrieb: „Jeder Christ soll Apostel sein für alle, die in Reichweite leben. Ihre Nächsten und Freunde zuerst, aber nicht nur für sie; die Nächstenliebe hat nichts Enges; sie umfasst alle, die das Herz Jesu umfasst. Durch welche Mittel? … Güte, Herzlichkeit, geschwisterliche Zuwendung, das Beispiel der Tugend, Demut und Sanftmut, die immer anziehend wirken und zutiefst christlich sind, gegenüber allen Menschen ohne Ausnahme?… Bei manchen Menschen werden Sie nie ein Wort über Gott und Religion verwenden. Sie üben Geduld, wie Gott geduldig ist. Sie sind gut, wie Gott gut ist?… Vor allem: in jedem Menschen den Bruder, die Schwester sehen.“

Die Muslimin, die rettet

Charles de Foucauld war kein Relativist. Er hoffte, dass die Tuareg Zugang zu Jesus fänden. Je länger er unter ihnen lebte, umso länger wurde diesbezüglich sein Atem. Er sah darin eine Aufgabe von Jahrhunderten.

Und er war aufmerksam für Wegweisendes: Bei einem Überfall auf ein französisches Expeditionskorps hatte ein Trupp Aufständischer eine Anzahl verwundeter Franzosen zurückgelassen. Die Tuareg-Muslimin Tarischat nahm die Soldaten in ihr Haus auf, pflegte und versorgte sie und verweigerte dem Tuareg-Anführer, der die Soldaten töten wollte, den Zutritt. Nach der Genesung brachte sie die Soldaten in Sicherheit. Charles de Foucauld schrieb: „Ist diese Seele nicht reif für die frohe Botschaft? Wäre es nicht richtig, ihr zu schreiben, dass wir von ihrer praktischen Nächstenliebe wissen?“ Er entwarf einen Brief, den er selbst, aber noch besser der Bischof der Sahara, der Frau schreiben sollte. Darin heißt es ergreifend: „Gott hat gesagt: Das erste Gebot der Religion ist die Liebe zu Gott aus ganzem Herzen. Das zweite ist, alle Menschen ohne Ausnahme zu lieben, wie sich selbst. Gott sagt auch: Ihr alle seid Brüder und Schwestern. Ihr habt alle den einen Vater, Gott. Und: Was ihr den Menschen tut, Gutes oder Schlimmes, das tut ihr Gott. Wir sind voller Bewunderung und Dankbarkeit wegen Ihrer praktischen Liebe zu den Menschen, die das zweite Gebot betrifft, während das erste die Gottesliebe ist. Wir schreiben Ihnen diesen Brief: Sie sollen wissen, Hunderttausende von Männern und Frauen, Ordensleute, die der Ehe und den irdischen Gütern entsagt haben, ihr Leben dem Gebet, der Meditation des Gotteswortes und der praktischen Nächstenliebe weihen, segnen Sie und preisen Gott wegen Ihrer Tugenden. Sie bitten ihn, Sie in dieser Welt mit Gnaden zu erfüllen und im Himmel mit Herrlichkeit. Wir schreiben auch, um Sie sehr inständig zu bitten, für uns zu beten.“

Die Sicherheit, mit der Charles de Foucauld, der christliche Beter und Priester, die Muslimin um ihr Gebet bat, von dem er gewiss war, dass es erhört wird, ist ergreifend. Diese Intuition hatte er sechzig Jahre vor der Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen („Nostra aetate“). Bisweilen hat man den Eindruck, Charles befände sich in einem „edlen Wettstreit“ des Glaubens. Er betete um die Bekehrung der Muslime, diese wiederum beteten darum, dass er sich zum Islam bekehre. So berichtete ein Freund: „Eine vornehme Frau aus dem Hoggar, die Pater de Foucauld eine tiefe Dankbarkeit bewahrte, seit er ihre fünf Kinder 1907 vor dem Verhungern gerettet hatte, sagte mir eines Tages: Wie schrecklich ist es, denken zu müssen, dass ein so guter Mensch bei seinem Tod in die Hölle kommen wird, weil er nicht Muslim ist. Sie gestand mir, dass sie und viele ihrer Landsleute jeden Tag zu Allah beten, er möge den Marabut (ein weiser heiligmäßiger Mann in islamischer Sicht; d. Red.) Muslim werden lassen.“ Füreinander zu beten, dass man die Wahrheit finden möge, ist die schönste Weise, weder in gleichgültigen Relativismus zu verfallen, noch in ein militantes Gegeneinander zu geraten.

Charles de Foucauld schwebte vor, dass sich die Christen in Minderheitssituationen zu kleinen Gemeinschaften zusammenfinden, um ein stilles, verborgenes, vom Geheimnis Gottes berührtes Leben zu führen, vergleichbar mit der heiligen Familie von Nazaret. Die Gemeinschaften sollten klein bleiben, weil große unweigerlich zu Besitz, Organisation und Komplexität neigen und damit die Tuchfühlung zur Umgebung verlieren. Charles de Foucauld dachte dabei nicht nur an Ordensleute, sondern genauso an Laien: Sie sollen nicht zuerst durch Worte, sondern durch Beispiel wirken. Er wollte eine Fraternität des Gebets und der Gastfreundschaft gründen, „eine kleine Familie, welche die Tugenden des Herrn so vollkommen nachahmt, dass alle in der Umgebung anfangen, den Herrn zu lieben“. Wie aber sollte man zu dieser vollkommenen Nachahmung gelangen? „Immer und immer wieder, unaufhörlich im Evangelium lesen, um im Geist immer die Handlungen, die Worte, die Gedanken Jesu gegenwärtig zu haben, damit wir wie Jesus denken, sprechen und handeln.“

Christ für die anderen

Neben dem Evangelium war für Charles de Foucauld die Eucharistie die Mitte eines apostolischen Lebens: „Um uns zu retten, ist Gott zu uns gekommen, hat sich unter uns gemischt, hat mit uns gelebt, in vertrautestem und engstem Kontakt, von der Verkündigung an bis zur Himmelfahrt. Zum Heil der Seelen fährt er fort, zu uns zu kommen, sich unter uns zu mischen, mit uns in engstem Kontakt zu lieben, jeden Tag und jede Stunde in der Heiligen Eucharistie.“ Genauso sollten Christen zu den Menschen gehen, sich unter sie mischen, „mit ihnen in vertrautem und in engem Kontakt leben“. Der Christ ist Christ für die anderen.

Dieses Leben in kleinen nazaretartigen Gemeinschaften findet sich schon vielfach auf der Erde in den sogenannten Kleinen Christlichen Gemeinschaften auf den Philip­pinen und in Afrika, in den Basisgemeinden Südamerikas, in manchen Ordensgemeinschaften, Säkularinstituten, neuen geistlichen Bewegungen, aber auch in so mancher Familie. Kirche als Sauerteig mitten in der Welt. Vielleicht entscheidet sich die Zukunft der Kirche in unseren Breiten daran, ob sie neben der nicht auf die Schnelle aufgebbaren Konzernartigkeit wieder Vertrauen in die Nazaretartigkeit fasst.

Von Karl Rahner wird oft der Satz zitiert: Der Christ der Zukunft werde ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat?… Von Charles de Foucauld lässt sich sagen, dass er als „Christ der Vergangenheit“ einer war, der etwas erfahren hat. Er hätte es so formuliert: Ich bin erschüttert von Gott, ergriffen von Christus und erfüllt vom Geist der Gottesliebe, der Selbstvergessenheit und der Nächstenliebe.

Vielleicht gehört es zum leisen Humor Gottes, dass er sich des Islam bediente, um die Selbstbezogenheit des jungen Charles aufzubrechen: „Der Islam hat in mir eine tiefe Erschütterung bewirkt?… Angesichts dieses Glaubens und der Menschen, die in der ständigen Gegenwart Gottes leben, ahnte ich, dass es etwas Größeres und Wahreres geben musste jenseits der Geschäftigkeit der Welt.“ Diese tiefe Erschütterung führte Foucauld auf den Weg zu Jesus. Dieser von Gott erschütterte und von Christus ergriffene, leise und doch leidenschaftliche Prophet wurde vom französischen Konzilstheologen Yves Congar zu den Leuchttürmen gezählt, die der Kirche Licht spenden. Dieses Licht reicht noch bis weit ins 21. Jahrhundert hinein.

Von Jakob Paula

Quelle: “Christ in der Gegenwart” CIG 48/2016 Seite 529

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